Erfahrungen?

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Erfahrungen?

Beitragvon Peter » Fr 4. Dez 2009, 11:51

Ich habe eine Frage an die Musiker/Hornkollegen.

Es geht um Erfahrung versus Musikwissenschaft.

Wenn man sein ganzes Leben musiziert hat (in meinem Fall fast 60 Jahre) bekommt man einen "Blick" für die Schreibweise/Stimmführung einzelner Komponisten. Zum Beispiel kenne und liebe ich Mozart ganz besonders; wie hat er doch so geschickt und wirkungsvoll das Horn eingesetzt!

Nun gibt es jedoch Stücke - auch bei Mozart -, bei den das Bild nicht mit den Erfahrungen über einstimmt. Ein Beispiel ist ja die Sinfonie concertante für Bläser. Hier ist man ja auch inzwischen ziemlich sicher, dass dieses Stück in der bekannten Form nicht von Mozart ist (evtl. eine Gedächtnisrekonstruktion?).

Aber es gibt auch andere Stücke. Ein Beispiel ist für mich Mozarts Messiasbearbeitung. Nach musikwissentschaftlicher Quellenlage ist diese Fassung eindeutig von Mozart. Schaut man sich aber die Hornstimmen - besonders die zweite Hornstimme an, dann kommen einem doch Zweifel.
Natürlich hat Mozart gelegentlich, z.B. bei seinen Hornduetten, das kleine h oder sogar f eingesetzt, ( unterhalb c1) . Aber in Orchesterwerken hat er das praktisch niemals oder doch sehr selten gemacht.

Aber auch bei anderen Komponisten gibt es Zweifel. So scheint mit deutlicher Gewissheit das sog. Doppelkonzert von J. Haydn ja von Rosetti zu sein.

Ich habe eine Partitur eines Stückes von J. Haydn: "Pietà di me" für 2 Soprane, Tenor ,Englischhorn, Fagott , Horn und Orchester. Die Hornpartie ist die Schwierigste, die ich kenne.

Das Stück ist an sich sehr schön, aber fast unspiel- und singbar. Ich habe eine live Aufnahme mit Brain - das einzige Mal, bei dem ich den Eidruck habe, dass Brain gescheitert ist! Die Partitur entspricht überhaupt nicht meinem Haydnbild. Ich finde, obwohl es musikwissentschaftlich eindeutig Haydnt (H.C.R. Landon) zu zu ordnen ist, dass es vielmehr nach Myslivecek klingt.

Wie sieht Ihr diese Diskrepanz zwischen Erfahrung und Wissenschaft?
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Re: Erfahrungen?

Beitragvon www_corno_de » Sa 5. Dez 2009, 15:18

Warum versus?

Ich finde es herrlich, wenn gestandene Musiker mit ihrer Erfahrung, sozusagen mit dem Bauchgefühl ein Gespühr für Unstimmigkeiten entwickeln. Dann muss man aber saubere Forschung und Belegarbeit anschliessen lassen.

Das Doppelkonzert für 2 Hörner RWV C 56 Es-Dur ist mit Sicherheit nicht von Joseph Haydn, eigentlich komisch, warum dies einfach nicht tot zu bekommen ist. Haydn merkt und vermarktes sich anscheinend besser. Und mancher scheind zu träge, umzudenken. Für das Konzert gibt es nur eine Quelle - die Abschrift aus der Bibliothek Oettingen-Wallerstein. Dort stand kein Komponist auf den Noten. Nachträglich hat dann wohl mal ein Bibliothekar "par Michael Heiden" nachgetragen - man kann sich das hier http://www.corno.de/webshop/product_info.php?info=p104_rosetti--antonio---rwv-c56-konzert-fuer-2-hoerner.html ansehen.
Und dann kam um 1950 ein Musikwissenschaftler und "ordnete" es Joseph Haydn zu, nur weil es ein Konzert für 2 Hörner gab, welches im Entwurfskatalog von Haydn steht. Der Incipit stimmt nicht mit dem Konzert C56 überein.
Seit diesem Tag klebt an dem Werk Joseph Haydn. Und rein vom formalen Aufbau ist es Rosetti am nächsten. Wenn auch der allerletze Beweis natürlich fehlt. Aber bitte nicht Haydn.

Beim anderen Haydn-Werk - es ist sicher diese Aufnahme http://www.youtube.com/watch?v=DN1U_dKss7U . Da würden mich auch als erstes einmal die Quellen interessieren.
Das Konzert d-moll RWV C38 ist ja auch einmal von Bernhard Krol "nach dem Urtext" editiert worden. Bei meiner Neuedition habe ich natürlich mich interessiert, wo der den sein soll. Ich habe nur in Dänemark eine Quelle gefunden, wo der alte Erstdruck liegt. Später habe ich dann die Wahrheit über den "Urtext" erfahren - in Berlin, Staatsbibliothek lag auch en Exemplar dieses alten Druckes. Dieses wurde im 2.WK vernichtet. Davor muss ein Musiker eine Abschrift davon gemacht haben. Und aus dieser Abschrift editiert Krol damals seine Urtext-Ausgabe. Mit Fehlern!

Myslivecek könnte durchaus im Bereich des Möglichen liegen. :)
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Re: Erfahrungen?

Beitragvon Peter » So 6. Dez 2009, 10:43

Hallo lieber Robert Ostermeyer,
vielen Dank für ihre interessante Antwort.
Zum Haydn-Rosetti-Doppelkonzert fällt mir noch folgendes ein:
Meine erste "Edelmugge" war 1957 in Marburg mit dem Collegium Instrumentale Helmut Winschermann. Wir spielten Mozarts KV251 und ein ähnlich besetztes Stück von Mozarts unbekannten Zeitgenossen Florian Gassmann. "Winschi" -wie wir ihn damals nannten - verkaufte das Stück gnadenlos als "von J.Haydn".
Die Kritik schrieb dann damals auch von "… einer Perle schönster Kammermusik… und von… Winschermanns Verdiensten um die Wiederentdeckung…" Als wir jungen etwas aufmüpfigen Studenten etwas später diese monierten, antwortete er, dass die Kritik in jenem Fall "… von einem nicht ganz zu Unrecht vergessenen Stück…" geschrieben hätte und fügte hinzu,

er hätte dieses auch bei einem wunderschönen neu entdeckten unbekannten Doppelkonzert für 2 Hörner empfohlen. Die beiden Franzosen hätten dieses Stück ja auch so toll gespielt und man müssten ihnen den verdienten Dank angedeihen lassen.

Nun, unter den vielen Aufnahmen, die ich besitze, ist auch diese mit André Fournier und Gilbert Coursier mit dem Saarländischen Kammerorchester unter Karl Ristenpart. Eine musikalsch schöne Erstaufführun nach der Wiederentdeckung!

Zu der Aufnahme von Haydn?: Pieta di me: Obgleich diese LiveAufnahme nur in D! (statt in ES) ist, die Tatsache, dass mein Idol Dennis Brain hier "gestrauchelt" ist, finde ich eher tröstlich . So etwas macht einen Ausnahmekünstler wie Brain erst zum Menschen!
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Re: Erfahrungen?

Beitragvon Günther » So 6. Dez 2009, 14:19

Möglicherweise gab es damals bereits schon "Outsourcing". Auch ist ja jedes Bild aus einer Werkstatt nicht unbedingt vom Meister persönlich. Ich habe zumindest einmal gehört, das Mozart dem erkrankten Michael Haydn mit einer Komposition ausgeholfen hat. Gibt es belegte Fälle vom Zukauf von Kompositionen von bekannten Komponisten?
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